30 russische Kriegsgefangene in Birkenwerder

Zu Beginn des Jahres 1915 bestehen größere Schwierigkeiten bei der Brotversorgung. Bäcker Wilhelm Urack in Borgsdorf ist gezwungen, seinen Betrieb zu schließen, weil er „auch für Geld und gute Worte“ kein Mehl bekommen konnte. Auch andere Bäckereien in Spandau und Zehlendorf backen zeitweilig kein Brot. Dank der Einführung des sog. K-Brotes (anfänglich mit Zusatz von 20% Kartoffelprodukten, im Laufe des Krieges mit Ersatzstoffen, u.a. Hafer, Gerste, Kleie, Erbsen, Mais, Kastanien, Eicheln, Nüssen und Brennnesseln) stand im Februar jeder Person pro Woche 2 kg Brot zu.

Die Ausgabe der ersten Bezugskarte für Brot erfolgt in „Brotkartenverband Birkenwerder und Umgebung“ am 21. Februar. Sie gilt anfänglich 14 Tage, ab Mai für einen Monat. Der Briesetal – Bote ermuntert, dass die Schere der Bäckersfrau (für die Trennung einzelner Abschnitte der Brotkarte) „nun eine Waffe geworden ist im Kampf unseres Volkes gegen den Aushungerungsplan der Engländer“.

Das 2 kg – Brot kostet 80 Pfennige.Bereits Anfang des Jahres informiert der Briesetal – Bote über die zunehmende Verringerung des Kartoffelangebots. Im Oktober 1914 erging vorausschauend das strenge Verbot des vorzeitigen Schlachtens von Vieh. Im krassen Gegensatz dazu veröffentlicht die Zeitung am 17. April 1915 die Bekanntmachung, dass zur Sicherung der Kartoffelversorgung der Bevölkerung alle „halbreifen Schweine mit 120 – 180 Pfund Lebendgewicht sofort geschlachtet werden müssen“. Die Tiere werden von der Firma Rodenbeck in Charlottenburg zu festgelegten Preisen angenommen, notfalls werden sie zwangsweise angekauft.

Die Bevölkerung wird aufgefordert, alle Möglichkeiten zu nutzen „Fleischdauerwaren“ durch Pökeln, Räuchern und Einkochen anzulegen. Diese Maßnahme erscheint plan- und konzeptionslos, zumindest fragwürdig, zumal Saat- und auch Esskartoffeln in frei verfügbaren Mengen vorhanden sind. Kaufleute aus Oranienburg liefern „jedes Quantum“. Die durch die Gemeinden Hohen Neuendorf und Birkenwerder angekauften Kartoffeln kosten pro Zentner 5,60 Mark, in Birkenwerder sind sie in der Obermühle auch in kleineren Mengen erhältlich. Auch in der Gutsverwaltung Summt sind rote und weiße Esskartoffeln zu beziehen.

Ganz angekommen ist die sich anbahnende Misere in Birkenwerden noch nicht. Nach wie vor bietet Birkenwerder einen attraktiven Anziehungspunkt für die Ausflügler aus Berlin. Am 1. Pfingsttag 1915 werden 11189 Besucher am Bahnhof gezählt.

Zunehmende Beliebtheit erfahren zahlreiche Kinoveranstaltungen im Ort, natürlich mit den neuesten Aufnahmen vom Kriegsschauplatz. Die verwundeten Krieger aus dem Lazarett haben freien Zutritt.

Im Mai 1915 veranstaltet der Wirt des Seeschlößchen jeden Sonntag ein Großes Gartenkonzert und empfiehlt eine „vorzügliche Küche“, im Gesellschaftshaus können während des Konzerts Familien Kaffee kochen, die Tages- und Abendkarte ist reichhaltig, der Ratskeller hat zu Himmelfahrt „Frikassee vom Huhn“ auf der Speisekarte. Paul Kleesen aus Hohen Neuendorf bietet „frisches Hirschfleisch“ zum Verkauf an, bei Kaufmann Becker in der Bahnhofsallee in Birkenwerder gibt es Tafelbutter I a, bei Borner in der Hauptstraße ist „Prima vollfetter holländischer Rahmkäse Gouda“ zu haben.

Das vom Amtsvorsteher Kühn „beschaffte“ Rauchfleisch wird am 27.4. in Stücken bis zu 3 Pfund, das Pfund kostet 1,50 Mark, direkt im Rathaus verkauft. Fleischer Fritz Bode aus der Havelstraße bietet fast wöchentlich „frisches Kalb- und Schweinefleisch sowie ff. Leberwurst“ an.

Ganz erstaunlich ist die gute Fischversorgung der Gemeinde. Fritz Müller aus der Hauptstraße bietet zu den Osterfeiertagen Hechte, Bleie, Karpfen und Bratfisch, Ende April hat er auch Aale und Klippfisch im Angebot. Bei Wenzel in der Bahnhofsallee gibt es Schellfische, Schollen und Seeforellen.

Der Briesetal – Bote berichtet im April von Massenfängen von Heringen in der Lübecker Bucht. „Die Fische stehen von der Wasseroberfläche bis auf den Grund wie eine Mauer“. Die Netze werden von den Fischern nicht mehr an Bord, sondern direkt an Land gezogen und „der Fang wie Sand aus dem Wasser geschaufelt“. Die Heringe werden zu 1 Pfennig pro Pfund in Lübeck und Hamburg abgegeben. Erfreulich, dass das Überangebot auch im Inland spürbar ist. Bei Otto Volkmann in der Havelstraße sind bis in den Juni I a Vollheringe, das Stück 11 Pfennige, zu haben, bei Becker in der Bahnhofsallee kostet ein Hering 10 Pfennige.

Die direkte Konfrontation der Birkenwerderaner mit dem Kriegsgeschehen bieten die Ereignisse im Vereinslazarett. In der Osternacht treffen in Birkenwerder 96 „Mannschaften“ ein. Den Transport vom Bahnhof zum Lazarett übernehmen wie immer die Männer der Sanitätskolonne, Autos werden von Bergemann und Petermann aus Birkenwerden und Krüger aus Hohen Neuendorf gestellt.

Die kulturelle Betreuung der Soldaten erfolgt u.a. durch den “Vaterländischen Frauenverein“ unter Vorsitz von Frau Amtsvorsteher Kühn, ihre Stellvertreterin ist Frau Pfarrer Lehmann. Organisiert werden Konzerte, Gesangsabende, Lichtbildervorführungen und Vorträge mit „Kriegshumoresken“. Dr. Wolff leitet aufopferungsvoll das Lazarett als Chefarzt, zur Seite steht ihm Dr. Josipowizi. Nach wie vor hat er Sprechstunden im Ort. Laut Anzeige im Briesetal – Boten vom 29.4. übernimmt er „im Einverständnis mit Herrn Dr. Rosenthal bis auf Weiteres die ärztliche Versorgung der Orte Hohen Neuendorf, Stolpe und Bergfelde. Ich halte täglich von 1 – 2 Uhr nachmittags Sprechstunden in der Wohnung des Herrn Dr. Rosenthal, Hohen Neuendorf, Victoriastraße 8, ab“. Das übersteigt seine Leistungsgrenze, eine Woche später erkrankt er, seine Sprechstunden übernimmt Dr. Brünn.

Eine weitere kriegsbedingte Neuigkeit ereignet sich am 29. Mai 1915. An diesem Tage treffen 30 gefangene Russen unter Bewachung von 5 Landwehrmännern auf dem Bahnhof ein. Sie werden im Saal des Restaurants „Bergschloss“ untergebracht und sollen zur Arbeit in der Gärtnerei Moll eingesetzt werden. Jede Art von Gefälligkeiten und die Abgabe von Ess- und Rauchwaren an die Gefangenen sind verboten.

Ein Waldbrand Anfang Juni 1915, bei Briese brennt auf 8 – 10 Morgen das Unterholz, wird von Feuerwehr, Einwohnern und Sommergästen bekämpft. Der Briesetal - Bote bemerkt dazu: „Auch Herr Gärtnereibesitzer Moll aus Borgsdorf leistet mit seinen 30 Russen bei dem Löschwerk tatkräftige Hilfe“.

Nach wie vor erhalten die im Felde stehenden Birkenwerderaner zahlreiche Zuwendungen aus der Heimat. Ihre Dankbarkeit drücken die Soldaten in Briefen aus, die dann in Auszügen im Briesetal – Boten veröffentlicht werden. Sie berichten oft sehr drastisch über die Unbilden im Schützengraben, sind aber meist von ungebrochenem Siegeswillen geprägt.

Musketier Paul Groth endet sein Kriegsgedicht mit den Worten:

Bis im letzten Kampf wir die Feinde fassen,

Bis alle dem deutschen Schwerte erliegen,

Denn wir müssen, wollen und werden siegen,

Da walte Gott!

Emil Rembd schreibt etwas sorgenvoller: „Ich kämpfe als alter Landsturmmann fürs Vaterland bis auf den letzten Tropfen Blut. Sollten wir uns nicht wiedersehen, so wünsche ich der Gemeinde Birkenwerder ein glückliches und langes Weiterbestehen“.

Paul Wascher bedankt sich mit seinem Brief vom 22.12.1914 für zwei Sendungen Zigarren und Zeitungen und berichtet von der Vorbereitung für Weihnachten in St. Maria P. „Nach Weihnachten kommen wir wieder in die vorderste Schützenlinie“. Einen Monat später, am 23.1.1915 ist in der „Ehrentafel“ im Briesetal – Boten der Reservist Paul Wascher als gefallen aufgeführt.

Abbildungen:

Feldpostkarte, 28.12.15 Quelle: Archiv Herfert