Dunkle Wolken über Birkenwerder
Birkenwerder ist vor Beginn des 1. Weltkrieges am 1. August 1914 in der friedlichen Epoche nach der Reichsgründung 1871 ein geordnetes Gemeinwesen, das Lebensgefühl seiner Einwohner ist geprägt durch geruhsames und fleißiges Wirken im Rahmen des politisch und wirtschaftlich aufstrebenden deutschen Reiches in unverbrüchlicher Treue zu Kaiser und Vaterland.
Nach einer verhältnismäßig kurzen prosperierenden Phase durch Tonabbau und Produktion von Ziegeleierzeugnissen bestehen noch dörfliche Verhältnisse mit Landwirtschaft und Viehhaltung in beachtlichem Umfang. Birkenwerder hat sich, begünstigt durch seine großartige Umgebung von Wald und Wasser und gute Verkehrsanbindungen zu einem beliebten Ziel für Siedler und bauwillige Berliner entwickelt. Zahlreiche gastronomische Einrichtungen bieten den Menschen aus der Hauptstadt attraktive Ausflugsziele.
Der Briesetal–Bote erscheint seit 1902 und ist Amtsbezirks–Anzeiger und Zeitung für Birkenwerder, Hohen Neuendorf, Borgsdorf, Briese, Lehnitz, Stolpe, für Hofjagd-revier, Bergfelde, den Amtsbezirk Schönfließ und Umgebung und ist Alleiniges amtliches Publikationsorgan mit rechtsverbindlicher Publikationskraft. Die Zeitung ist somit wichtige Informationsquelle für die Einwohner der genannten Gemeinden.
Die aktuellen Themen im letzten Friedensjahr sind sehr vielfältig, so zu gesundheitlichen Problemen. So erfolgen in mehreren Nummern Hinweise auf die Verpflichtungen zur Durchführung der Pockenschutzimpfungen mit allen Konsequenzen bei Nichtbeachtung. Hingewiesen wird auf die Anzeigepflicht übertragbarer Krankheiten.
Nach wie vor fordern Maßnahmen gegen die TBC besondere Aufmerksamkeit. Im Juni 1914 wird festgestellt, dass die Sterblichkeit bei erwachsenen TBC-Kranken in Preußen zurückgedrängt werden konnte, die Sterblichkeit bei Kindern war bisher nicht einzudämmen. Interessant die Feststellung, dass die Befreiung vom Militär-dienst den Tuberkulösen nicht ohne weiteres zukommen sollte; denn bei leichten Erkrankungen hat eine spätere Dienstzeit gute Heilerfolge gehabt!
Aus einer für 1910 vorliegenden Statistik geht hervor, dass im Amtsbezirk 27 Wohnungen desinfiziert wurden. Genannt sind 13 Scharlach-, 3 Typhus- und 3 Diphteriefälle und 3 Wohnungen von an Lungen- bzw. Kehlkopftuberkulose Verstorbenen. Diese Arbeiten erfolgten kostenlos, zur Verfügung stand ein moderner Desinfektionswagen, dessen Anschaffung ein Verdienst des Amtsvorsteher Kühn. Das Gesundheitswesen unserer Gemeinden dieser Zeit war besonders geprägt durch die Arbeit von Dr. Rosenthal und Dr. Wolff, praktische Ärzte in Hohen Neuendorf bzw. Birkenwerder.
Wie auch bei anderen Gelegenheiten sorgt Amtsvorsteher Kühn für Jugend der Gemeinde und veröffentlich mehrmals gesetzliche Vorschriften betreffend Kinderarbeit in gewerblichen Einrichtungen. So ist das Austragen von Zeitungen, Milch und Backwaren und das Aufstellen von Kegeln auf den Kegelbahnen der Gaststätten Kindern unter 12 Jahren verboten. Das Schulkuratorium unter Leitung von Kühn hatte bereits 1910 Maßnahmen zur weiteren „Aufsetzung“ der Klassen und Erweiterung des Lehrkörpers der „Gehobenen Knaben- und Mädchenschule“ (gegründet 1909) ergriffen. 1914 kann ein weiterer Erfolg errungen werden. Nach Zustimmung des Provinzialschulkollegiums erfolgt der Anschluss der hiesigen Höheren Schule hinsichtlich des Schülerwechsels an das Städtische Realgymnasium in Oranienburg. Danach können Schüler aus Birkenwerder aus allen Klassen ohne Rückstellung und Aufnahmeprüfung nach Oranienburg wechseln.
Viele Gemeindemitglieder beteiligen sich mit großartigem Einsatz zum Wohle der Gemeinschaft. Besonders im sozialen Bereich ist die evangelische Kirchengemeinde unter dem beliebten und verehrten Pfarrer Richard Lehmann – seine Amtszeit in Birkenwerder von 1892 – 1923 – sehr aktiv. Es war bekannt, dass Lehmann Hilfebedürftige und Notleidende, die an seine Tür klopften, nie abwies. Die von ihm organisierten Gemeindeabenden mit kirchlichen und weltlichen Themen finden regen Zuspruch.
Aktivposten in der Gemeinschaftsarbeit sind die Freiwillige Feuerwehr und die Sanitätskolonne vom Roten Kreuz. Mit großem Eifer ist die Freiwillige Feuerwehr seit ihrer Gründung bei vielen Einsätzen tätig. Allein der auf der Abbildung zu erkennende Personalstand zeigt die imposante Entwicklung der Wehr seit ihrer im Jahre 1900 erfolgten Gründung. Laut „Feuerpolizei- und Löschordnung“ waren alle Pferdebesitzer mit mind. zwei Zugpferden verpflichtet, bei Alarm die fahrbaren Spritzen, Wasserwagen, Mannschaftswagen und andere fahrbare Geräte zu bespannen und zum Brandort zu fahren.
Die Sanitätskolonne hat sich die medizinische Hilfe Betroffener bei Havarien, Unfällen und Veranstaltungen auf die Fahne geschrieben. Von Amtsvorsteher Kühn 1907 gegründet, tritt sie bereits 1909 bei einer Explosion in einem Industriebetrieb erfolgreich in Erscheinung. Auch bei weniger spektakulären Ereignissen ist die Sanitätskolonne aktiv. Am 21.5.1914 verkündet der Briesetal-Bote, dass bei dem am Himmelfahrtstage erwarteten Massenandrang der Gäste „unsere braven Sanitäre weder Zeit noch Kräfte sparen und Bedürftigen in uneigennütziger Weise zur Verfügung stehen“. Bei „Tanzunfällen“, gemeint sind sicher Rempeleien, behandelten sie Platzwunden und auf dem überfüllten Bahnhof halten die Männer für ohnmachtsanfällige Damen Richfläschen bereit. Tatsächlich stiegen am Himmelfahrtstage in Birkenwerder 12412 Ausflügler aus den Zügen und fluteten abends wieder zurück.
An den von staatlicher Seite befohlenen Übungen in großen Maßstab nimmt auch die Sanitätskolonne aus Birkenwerder teil, so wie im Mai 1909 bei der angenommenen Explosion eines Munitionstransportes. Organisation, Aufmarsch und Ablauf erfolgten nach militärischen Regeln, zu Beginn fand ein Gottesdienst mit Feldpredigt statt. Die Ausrichtung des Einsatzes der freiwilligen Sanitätskolonne auf den Kriegsfall zeigte sich auch in der ständig zu aktualisierenden Liste namentlich genannter Mitglieder für den Einsatz im Kriegsfall.
Trotz stets betonter Staats- und Kaisertreue spart die Redaktion des Briestal-Boten kritische Berichte nicht aus, so über die Gerichtsverhandlung gegen Rosa Luxem-burg im Juli 1914. Sie hatte sich anlässlich eines Soldatenselbstmordes und über Misshandlungen in Heer und Marine geäußert. Auch in Birkenwerder gibt es 1914 erregte Auseinandersetzungen bei der Wahl eines Sozialdemokraten in der Gemeindevertretung.
In Birkenwerder sind zahlreiche interessenorientierte Vereine – der Grundbesitzer Verein, Verein der Gastwirte, Kriegervereine – und die Vereine und Verbindungen, die Kultur, Kunst, Sport und Geselligkeit pflegen, tätig. Die Birkenwerderaner sind jeder Art von Vergnügen zugetan, verfolgen aber auch mit einigem Aufwand nach-barliche Differenzen.
Bemerkenswert die fast rauschartige Lust auf Trubel und Heiterkeit jeder Art im Jahre 1914 bis zum Kriegsbeginn. Es könnte scheinen, als wenn die Bewohner des Amtsbezirks eine schlimme Vorahnung über das Ausbleiben aller Belustigungen in den folgenden Jahren ergriffen hätte. Für das Wochenende 11./12. Juli kündigt der Briesetal-Bote zwölf Veranstaltungen in Birkenwerder und Umgebung, ein Schützenfest (2 Tage) mit Königsschießen, Varieté, Karussell, Wurst- und Würfelbuden und Verlosungen an. Weiter findet statt ein Familien- und Kinderfest mit Theater, „Kinder- und Damentanz mit Bonbonregen“, es gibt mehrere Konzerte, Fackelzüge, ein Brillantfeuerwerk und ein Zapfenstreich der Schützengilde.
Und bald ziehen Unheil verkündende Wolken auf.
Die Abbildung 03 zeigt die Meldung im Briestal-Boten über das Attentat in Sarajewo, äußerer Anlass für den Kriegsbeginn.
Abb. 1: Freiwillige Feuerwehr, Leihgabe von Herrn Hermann Krumnow
Abb. 2: Mord in Sarajewo, Briesetal-Bote v. 30.6.1914
Text Herr Siegfried Herfert für die Gemeinde Birkenwerder