Vergnügen, welche die rohe Sinnlichkeit aufregen
Anstand, Sitte, Moral und Ordnung waren durch widrige Umstände, wie Krieg, Hungersnöte und Seuchen gefährdet. Aber auch in „normalen Zeiten“ neigten die Birkenwerderaner gelegentlich zu unzüchtigem Lebenswandel und sündigten. Dagegen anzugehen oblag den Kirchen und der Obrigkeit, den Bauern und Kossäten wurden von der Kanzel herab „die Leviten verlesen“.
Entsprechende kritische Anmerkungen der Pfarrer sind schriftlich in den Tauf- und Trauregistern belegt. Natürlich war das geistliche Oberhaupt über das Leben in seiner überschaubaren Gemeinde gut informiert. Ggf. fühlte er sich verpflichtet, bei der Taufe eines Säuglings auf dessen sündhafte Zeugung und bei einer Hochzeit auf das „unzüchtige“ Vorleben der Brautleute hinzuweisen. Manchmal sah er sich sogar veranlasst, bei einem Eintrag ins Sterberegister bissige Bemerkungen zum Lotterleben des Verstorbenen einzufügen.
So „copuliert“ (vermählt) Prediger Ordelin am 13.4.1735 Friedrich O. aus Schönfließ mit Anna Dorothea T., „nachdem sie sich vorher in Unehren zusammengefunden“. Auf anderweitige voreheliche Beziehungen der Braut, bei ihrer Eheschließung in Birkenwerder im Jahre 1731, wird mit dem Vermerk „so sich vorher von einem andres beschlafen lassen“ hingewiesen. Bei einer Trauung 1866 schreibt der Pfarrer in die Spalte „ob schon verehelicht gewesen“ ohne weiteren Kommentar „nein, geschwängert“! Selbst noch 1894 hat Pfarrer Lehmann bei einer Eheschließung am 6. Mai die Bezeichnung der Brautleute mit „Junggeselle“ bzw. „Jungfrau“ nachträglich durchgestrichen mit dem Vermerk „war erlogen“.
Lehmann hatte nachgerechnet, als das Kind der Eheleute, ein Knabe, geboren am 28. November 1894, zur Taufe angemeldet wurde. Wie ich schon einmal beschrieben habe, hat Pfarrer Goldmann, in Birkenwerder tätig von 1787 bis 1833, mit Kritik beim Ableben seiner Gemeindemitglieder nicht gespart. Beim Tode eines Bergfelders im Jahre 1818, der seine Frau, drei erwachsene und vier minderjährige Kinder zurück ließ, schreibt er ins Kirchenbuch: „An den Folgen der Trunkenheit. Dieser früher sehr kluge Mann gewöhnte sich den übermäßigen Trunk des Brantweins an und wurde dadurch ein Gottverächter … ging weder zur Kirche noch zum Abendmahl.“
Auch Außerorts habe ich drastische Kirchenbucheintragungen gefunden. Ein Brautpaar „hatte sich schon vorher fleyschlich vermischet“. Ein Säugling, für den die Mutter keinen Vater benennen wollte oder konnte, wurde als „Hurenkind“ eingetragen (1698).
Die Pfarrer sparten aber auch nicht mit lobenden Worten bei ihren Eintragungen, z. B. beim Ableben ehrenwerter Gemeindemitglieder. Das traf zu bei jahrzehntelanger Tätigkeit verstorbener Schulzen oder Kirchenvorsteher. Eine verstorbene Ehefrau in Birkenwerder wurde als „Muster der Frömmigkeit der ehelichen und häuslichen Tugend, die die Achtung und Liebe des ganzen Dorfes genossen“, bezeichnet. Besondere Erwähnung fanden bei verstorbenen Soldaten lange Dienstzeiten, Teilnahme an Schlachten und militärische Auszeichnungen.
Seit Menschengedenken fühlt sich die jeweils ältere Generation der nachfolgenden in allen Lebenslagen als Vorbild. Nach Ansicht der Erwachsenen nimmt die Jugend das Leben von der leichten Seite, ihr fehlt die notwendige moralische und sittliche Einstellung. Aber auch die Obrigkeit Anfang des 19. Jahrhunderts war überzeugt, dass das an schlechten Beispielen der Älteren liegen könnte. In einem Circular (Rundschreiben) vom 17.7.1827 an die Landräte, die Geistlichkeit und die Schulen stellt die Königl. Preuß. Regierung fest, dass den Jugendlichen „das Besuchen der Schank- und Spielstuben und der Tanzböden häufig … gestattet wird“.
Darum wird veranlasst, „dem Umhertreiben der Kinder in den Schenken und Wirtshäusern nach Kräften Einhalt zu thun“. Den Kindern dürfen nicht „geistige Getränke, namentlich Branntwein verabreicht werden“. In einem weiteren kommentierenden Rundschreiben wird noch einmal an die Geistlichen, Lehrer, Schenk- und Gastwirte und die Eltern appelliert, mitzuwirken, „dass die Jugend von dem verderblichen Einflusse solcher Vergnügungen, welche die rohe Sinnlichkeit aufregen oder durch den Anblick böser Beispiele der Erwachsenen das jugendliche Herz schon frühe mit dem Laster befreunden“, zu schützen sei. Besondere Gefahr drohe bei Festtagen, so bei Fastnachts-, Ernte- und Kirmesfesten, bei Hochzeitsfeiern und Kindstaufen,
Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die soziale Struktur in Birkenwerder und die Lebenssituation vieler Einwohner geändert. Die Landbesitzer hatten früh die Zeichen der Zeit erkannt und ihren Acker mit den darunter liegenden Tonschichten an die entstandenen Ziegeleien verkauft. Die vier großen Betriebe zogen viele Arbeitskräfte auch aus dem Umland an. Zur Bewältigung der Transportprobleme der Ziegeleien – Anlandung großer Mengen Brennmaterial und Abtransport der Ziegel – stiegen viele Birkenwerderaner in die Flussschifffahrt ein. Im Eheregister der Kirche sind in dieser Zeit sehr häufig die Bräutigame „Ziegelstreicher“, „Ziegler“, „Ziegelbrenner“, „Ziegelmeister“, oder „Schifferknecht“ (1820), „Schiffseigner“ und „Schiffer“.
Birkenwerder wurde immer stärker zu einem beliebten Ausflugsort der Berliner, viele Sommergäste hielten sich bereits auch für längere Zeit im Ort auf. Das führte zum Entstehen vieler Gaststätten. Die vielen illustren Gäste wollten unterhalten und zur Steigerung der Lustbarkeit und des Umsatzes animiert werden. So schaffte sich Gastwirt Ebel 1888 für sein „Restaurant zum Boddensee“ ein Pianoklavier an, auf dem ein anwesender Gast zum Tanz aufspielte. Bei Bedarf engagierte er einen Klavierspieler aus Berlin.
Ein besorgter Einwohner sah hier aufkommende Verderbnis für Moral und Sitte, zumal nicht auszuschließen war, „dass sich auch hiesige Einwohner an dem Tanz betheiligen …“ und beschwerte sich. Die Beschwerde wurde vom Amtsvorsteher mit dem Hinweis auf die Verfügung der Regierungspräsidenten vom 26.2.1887 – I 3. Nr. 779.2 - , die diese Tanzlustbarkeit gestattete, abgewiesen. Der Amtsvorsteher sah keinen Grund „gegen dieselben einzuschreiten, zumal das Ebel’sche Local jetzt ein Aufenthaltsort für das bessere Publikum“ sei.
Autor: Siegfried Herfert