Varieté und Kostümfest anstelle von Dörflichkeit

1902 wurde allen Ernstes erwogen, zur Verbesserung der Verkehrsbedingungen eine Schwebebahn nach dem Muster von Elberfeld – Barmen zwischen Berlin und Oranienburg einzurichten. Selbst in Berlin gab es Vorstellungen, eine Schwebebahn zwischen Gesundbrunnen und Rixdorf, heute Neukölln, und Steglitz zu bauen. Steglitz hatte bereits 1000,- Mark für Planungsarbeiten bewilligt. Wegen ablehnender Haltung der zuständigen „Continentale Gesellschaft für elektrische Unternehmungen Nürnberg“ wurde das Vorhaben nicht realisiert.

Auch ohne diese utopischen Neuerungen brachten die bestehenden Verkehrsbedingungen immer größere Zahlen von Ausflüglern, Wanderern und Sommergästen von Berlin ins Umland. Zu Pfingsten 1910 gaben aus Berlin anreisende Gäste am 1. Feiertag 9.550 und am 2. Feiertag 8.008 Fahrkarten in Birkenwerder ab, in Hohen Neuendorf waren es 3.024 bzw. 2.768, in Borgsdorf noch 818 bzw. 710 Fahrkarten.

Wie der „Briesetal – Bote“ berichtet, konnte unser Bahnhof nach einem Unwetter am 2. Feiertag die zurückflutenden Menschenmassen kaum fassen, er musste zeitweilig gesperrt werden. Während einer Stunde wurden an 2 Schaltern 1.100 Billets nach Berlin verkauft. Beim Einfahren der Züge gab es auf dem Bahnsteig Tumulte, eine Dame erlitt Herzkrämpfe und musste durch „Sanitäre“ der „Freiwilligen Sanitätskolonne vom Roten Kreuz“ Birkenwerder wieder „reisefähig gemacht werden“.

Aber auch dem „gehobenen Publikum“, das nicht mit der Bahn anreiste, wurden für seine Reit- bzw. Kutschpferde überdachte Ställe – z. B. in Briese – oder Autogaragen angeboten.

Damit war Anfang des vorigen Jahrhunderts das ehemals geruh- und sittsame dörfliche Leben in Birkenwerder vorbei. Der Ort entwickelte ein umfangreiches Angebot vielfältiger Vergnügungsmöglichkeiten. Jeder der Restaurateure der vielen Gaststätten, Restaurants und Cafés musste sein Etablissement so attraktiv wie möglich machen. Bereits in der ersten Ausgabe des „Briesetal – Bote“ vom 30. 08. 1902 wirbt der Wirt des Schützenhauses (bis 1921, heute das Karmelitenkloster St. Teresa der Katholischen Pfarrgemeinde) mit folgendem Vers:

Bei diesem vielen Sommer – Regen,
Da ist es noch ein wahrer Segen,
Daß bei dem miserablen Wetter:
Die Schweine werden immer fetter.
So geht es auch dem Schützen – Schwein
Drum soll am Sonntag Schlachtfest sein.
Denn mag es regnen lange noch
Vom Schwein das Eisbein schmeckt ja doch,
Und auch die Wurst natürlich ländlich
Zurechtgemacht schmeckt selbstverständlich.
Drum komme jeder unbeirrt:
Zum Schlachtefest beim Schützenwirt

Angebote zur Verköstigung einschließlich diverser Getränke hoher Qualität zu moderaten Preisen waren selbstverständlich. Lukullische Höhepunkte boten traditionelle Festivitäten wie Bockbier- und Schlachtfeste. Tanzveranstalten jeder Art, wie Kostümfeste, Masken- und Karnevalsbälle fanden bei Gästen von außerhalb und den Einheimischen großen Anklang. Dafür wurden oft mehrköpfige Orchester und Kapellen verpflichtet.

An den Pfingsttagen 1910 gastierten im „Restaurant zum Boddensee“ die „Schrödersche Damenkapelle“ aus Berlin. Außerordentlich beliebt waren die Konzerte von Militärkapellen. 1909 und 1910 traten die Kapelle des „2. Brandenburgisches Dragoner – Regiment Kaiserin Alexandra von Rußland“ im „Boddensee“ und „St. Hubertus“ und die Kapelle des „Garde – Train – Bataillon“ unter dem Königl. Musikmeister Herrn Karow im „Boddensee“ auf. Auch die Kapelle des „5. Garderegiments zu Fuß“ konzertierte hier. Die Großveranstaltung zum Kaisergeburtstag im März 1910 wurde u. a. gestaltet durch das „unter Leitung des Herrn Polizeiserganten Dorenz Hohen Neuendorf stehende Trommler- und Pfeiferkorps Jung Deutschland“.

Bald fanden aber auch Musikautomaten Einzug, wie das „Orchestrion“ dass einen Tanzsaal lautstark „beschallte“.
Bekannte Vortragskünstler, Sänger und in- und ausländische Schauspielgesellschaften fanden zahlreiche Auftrittsgelegenheiten. So wurde im März 1910 im „St. Hubertus“ „Am Hochzeitstage“ von Franz v. Suppé (wahrscheinlich 1. Akt der Operrette „Banditenstreiche“, d. A.) von einer Berliner Truppe gegeben. Im gleichen Jahr lud der Wirt des Restaurants „Rheingau“ zum „Debüt eines berühmten ungarischen Ensembles“ mit ihrem Schauspiel „Die Anna Lise oder Des alten Dessauer einzige Jugendliebe“ in 5 Aufzügen ein. (Leopold von Dessau, 1676 – 1747, in Preußen beliebter Feldherr). Diese Truppe zeigte auch im „Waldidyll“ in Hohen Neuendorf das „Sittendrama 20 Jahre unschuldig im Zuchthaus“.

Bei Varieté – Veranstaltungen wurden Auftritte von Zauberern, Akrobaten und Komikern geboten, als Sensationen traten Degenschlucker und Kleinwüchsige auf, umrahmt von einem Ballet.

Autor: Siegfried Herfert