Ungehörige Sonntagsarbeit

Bemerkenswert ist, dass auf Missstände in der Veltener Ofenindustrie durch den Birkenwerderschen Pastor Boy hingewiesen wurde. Er hatte sich im Jahre 1888 zweimal schriftlich „betreffend ungehöriger Sonntagsarbeit in den Veltener Ofenfabriken“ an den „Königl. Gewerberath“ Dr. v. Rüdiger gewandt. Dieser ordnete daraufhin „strengste Untersuchung“ an, was zur „Herbeiführung des gesetzlichen Zustandes“ führte. Boys Bestrebungen waren durch christliche Menschenliebe geprägt, sicherlich befürchtete er aber auch ähnliche Zustände in den Birkenwerderer Ziegeleien.

Die Veltener Töpfer hatten sich schon sehr früh kritischen Problemen, wie Arbeitslosigkeit, Arbeitszeiten, Rekordarbeit und Frauen- und Kinderarbeit widmen müssen. Aus den im Ofen- und Keramikmuseum in Velten vorhandenen Unterlagen – für die Möglichkeit der Einsichtnahme danke ich der Leiterin Frau Seydewitz – geht hervor, dass die Töpfer in vielen Aktionen für die Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen kämpften und vielen Behinderungen, Verboten und Bespitzelungen ausgesetzt waren.

Die in der Bauindustrie eingetretene schwierige wirtschaftliche Situation nach 1905 führte zu Protesten und Streiks in der Arbeiterschaft, was wiederum zu entsprechenden Reaktionen durch die Unternehmer führte. Der „Verband der Baugeschäfte von Berlin und den Vororten“ verfügte für den 18.5.1907 eine „Generalaussperrung“ aller Bauarbeiter und der Beschäftigten der am Bau beteiligten Gewerke. 100000 Arbeiter sollten „außer Lohn“ gesetzt werden, tatsächlich war nur etwa die Hälfte betroffen – kleine Bauunternehmer beteiligten sich aus wirtschaftlichen Gründen nicht an den Maßnahmen. Endgültig wurden die Aussperrungen durch Abschluss von Tarifverträgen beendet.

Unter der Krise in der Bauwirtschaft hatte natürlich auch die Ziegelindustrie zu leiden. 1905 kommentierte die Potsdamer Handelskammer den Produktionsrückgang mit „immer fühlbar machender Konkurrenz der Kalksandsteine“ und „vielfacher Arbeiterstörungen“. An anderer Stelle wird auch auf die zunehmende Konkurrenz durch Produkte der Zementindustrie hingewiesen, besonders bei Dacheindeckungen. Die Generalversammlung der „Birkenwerder Aktiengesellschaft für Baumaterial“ (ehemals Ziegelei I) konstatierte im Juni 1907 einen „nicht befriedigenden Gewinnertrag“ und führte das auch auf den Bauarbeiterstreik zurück.

Die wirtschaftliche und politische Situation in der sog. „Gründerzeit“ nach der Reichsgründung 1871/73 war geprägt durch verstärkten Einfluss sozialdemokratischen Gedankenguts auf die erstarkende Arbeiterbewegung. Egon Dahlenberg berichtet in seinen Aufzeichnungen zur 600 jährigen Geschichte von Birkenwerder 1955 von Arbeitervereinigungen, die sich zur Zeit des Sozialistengesetzes getarnt als Gesangsvereine, Skat- und Sparklubs in Gaststätten des Ortes trafen. Diesen Vereinen gehörten viele Berliner an, die sich hier sicherer fühlten.

Nach der Jahrhundertwende sind die SPD und andere Organisationsformen der Arbeiterbewegung verstärktem Druck konservativer Kräfte ausgesetzt. Im Juni 1908 wird dazu aufgefordert, dass die SPD „als die Partei des Umsturzes und der Revolution von jedem vaterländisch denkenden Menschen bekämpft werden muß …“. Das bekommt auch der Sozialdemokrat Arthur Stadthagen, der seit 1890 bis zu seinem Tode im Dezember 1917 den Wahlkreis Niederbarnim im Reichstag vertreten hat, zu spüren.

Der Politiker war als Rechtsanwalt Vertreter gemaßregelter Arbeiter erfolgreicher kämpferischer Agitator und Redner. Die Anfeindungen gipfelten mit der üblen Bedrohung durch ein Mitglied des „Konservativen Wahlvereins“: „Werft das Scheusal in die Wolfsschlucht!“. Verbürgt ist das Auftreten Stadthagens anlässlich der Reichstagswahlen in Birkenwerder am 3.1.1907 (Die Lokalität war leider noch nicht zu ermitteln). Bereits am 11.5.1903 hatte Stadthagen an einer Wahlversammlung im „Paradiesgarten“ teilgenommen.

Die kritische politische Lage zeigte sich bei einem tragischen Ereignis am 23.9.1906 und seinen Folgen. Nach der Versammlung sozialdemokratischer Arbeiter und Handwerker kam es auf der Dorfstraße von Stolpe zu einer Auseinandersetzung zwischen einer Gruppe der Versammlungsteilnehmer und zwei Fußgendarmen in Zivil. Dabei wurde der 33 jährige Zimmermann Adolf Herrmann durch einen Schuss schwer verwundet, er verstarb am 29. September 1906 in der Charité in Berlin. Der Gendarm Jude, Dienstort Birkenwerder, der den tödlichen Schuss abgegeben hatte, wurde erst nach Protesten entlassen, erhielt aber einen anderen, sogar erträglicheren Posten. Die Witwe Herrmanns geriet mit ihren drei Kindern in eine lange anhaltende Notlage, gemildert durch Spenden.

In den Folgejahren fanden jährlich im September machtvolle Gedenkveranstaltungen statt. 1910 gedachte Arthur Stadthagen vor 7000 Genossen im „Feldschlößchen“ in der Stolper Straße in Hohen Neuendorf des Toten.
Der 1909 am Grabe von Herrmann errichtete Gedenkstein führte zu zahlreichen unwürdigen Aktionen durch die Obrigkeit.

Besonders die alteingesessenen Birkenwerderaner blieben in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg weitgehend von grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Aktivitäten unberührt und revolutionärem Gedankengut abgeneigt. Noch wurde fast jede Veranstaltung oder Feier mit dem „Kaiserhoch“ beendet!

Ins Gemeindeparlament konnte erst 1912 ein Vertreter der SPD einziehen.

Der wirtschaftliche Aufschwung, begründet durch die Ziegeleien, durch Schifffahrt, Siedlungstätigkeit, Wohnstättenbau und den expandierenden Ausflugs- und Amüsierbetrieb brachte vielen Birkenwerderanern einen gewissen Wohlstand. Trotzdem bestanden nach wie vor soziale Differenzen, die man durch Maßnahmen der Gemeinde, Kirche, gesellschaftlichen Vereinigungen und von Privatpersonen zu mildern suchte. 1908 wurde festgelegt, an arme Kinder Freikarten für das Baden in der „Badeanstalt von Seebesitzer Witt“ an der „Tränke“ auszugeben. Die „Viehtränke“ befand sich am Ausfluss des Boddensees in die Briese etwa auf dem Terrain des später dort erbauten Restaurants „Japan“, danach Landschulheim, jetzt Baugelände.

Das Niederbarnimer Kreisblatt informierte 1894 über die „Weihnachtsbe-scheerung“ von 40 armen Kindern im Dezember 1893 und 1894. Mit Geldspenden vieler privater „Wohltäter“ und von Vereinen finanzierte man die Geschenke, meist Kleidung und Schulutensilien. Am 23.12.1902 beschlossen die Gemeindevertreter, 13 „arme Witwen“ zu Weihnachten wie im vergangenen Jahr mit je 25,- Mark zu beschenken, der „Verschönerungsverein“ steuerte für jede der Frauen 5,- Mark bei. Zu Silvester übergab der „Ortsverein“ zwei alten Frauen im Armenhaus je 250 Stück Presskohlen, ein Umschlagtuch und ein Paar warme Schuhe.

Unzureichende Ernährung und Hygienemängel waren Ursache für Krankheiten, insbesondere die Tuberkulose. Um 1910 wird im Briesetal-Bote wiederholt auf die Notwendigkeit der Desinfektion der Wohnungen lungenkranker Einwohner hingewiesen.

Autor: Siegfried Herfert