Jetzt heißt es Abschied nehmen

Nach der Mobilmachung am 1. August 1914 fiel das Deutsche Reich in einen euphorischen kriegsbegeisterten Patriotismus. Im Briesetal – Boten vom 6. August ist für Birkenwerder zu lesen, dass seit dem 2. August der Bahnhof täglich belagert ist.  „Hier heißt es Abschied nehmen. Beim Abfahren der Züge gerät die Menge in helle Begeisterung, es gibt ein Wehen und Tücher schwenken, wobei kein Auge trocken bleibt.

Wie wir erfahren, sind aus unserem Orte 250 und aus Hohen Neuendorf ebenso viel Reservisten und Landwehrleute zu den Fahnen gerufen“. Weiter ist zu lesen, dass in der nationalen Hochstimmung überall Feinde und Spione vermutet werden. In Berlin werden Männer mit Bart als russische Spione verhaftet, in Oranienburg kommt es bereits am 4. August zur Verhaftung einer ganzen Anzahl von verdächtigen Personen und bei „riesigen Menschenansammlungen“ zu mehrfachen Ausschreitungen.

Tausende Menschen versammeln sich, als Autos mit den ersten Gefangenen aus Sachsenhausen eintreffen, die der „begleitende Polizeisergeant Hensel mit der Waffe vor der Wut der Menge schützen muss“. Auch die Birkenwerderaner stoppen und kontrollieren jedes durch den Ort fahrende Automobil.

Einen Hohen Neuendorfer Kolonisten wird ein Probeflug seiner Brieftaube zum Verhängnis. Es folgt Hausdurchsuchung und die „Beschlagnahme der rückge-kehrten Taube“.
Grundsätzlich wird auf jedes Luftfahrzeug, in der Überzeugung, es sei ein feindliches, mit Handfeuerwaffen geschossen, natürlich erfolglos.

Als besonders gefährdet werden Eisenbahnanlagen und Bahnhöfe angesehen, anfänglich von mit Karabinern bewaffneten Beamten bewacht. Später übernehmen von Amtsvorsteher Kühn verpflichtete und mit schwarz-weißen Armbinden versehene hiesige Bürger den Wachdienst, u. a. an der Fußgängerbrücke. Diese Hilfskräfte kommen auch bei anderen Gelegenheiten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zum Einsatz.

Letztendlich muss aber dem nationalen Übereifer Einhalt geboten werden. Der Briesetal - Bote beruhigt dahin gehend, dass sich keine feindlichen Luftfahrzeuge im deutschen Luftraum befinden. Sicherheitshalber werden Abbildungen der drei deutschen im Einsatz befindlichen Luftschiffstypen einschließlich ihrer Farbgebung und Kennzeichnung im Briesetal – Boten veröffentlicht. Deutsche Flugzeuge sind mit dem Eisernen Kreuz gekennzeichnet und angehalten, so niedrig zu fliegen, dass das Kreuz erkennbar ist.

Amtsvorsteher Kühn teilt auch mit, dass es sich bei zahlreichen arretierten „Spionen“ um unbescholtene Bürger handelt, die selbstverständlich entlassen wur-den. Vielfach waren die Betroffenen nachbarschaftlichen „Racheakten“ zum Opfer gefallen. Veteranen des Deutsch – Französischen Krieges 1870/71, hatten „Kaisers Rock“, d. h. die Uniformen, mit denen sie damals sieg- und ruhmreich heimgekehrt waren, angelegt. Da diese Uniformen kaum noch jemand kannte, waren deren Trä-ger oft als „Ausländer“ verdächtigt worden, was natürlich schnell korrigiert werden konnte.

Trotz überall herrschender nationaler Begeisterung vom 1. Tag des Krieges an schauten viele Menschen sorgenvoll und mit wenig Vertrauen in die Zukunft. Neben der imposanten Entwicklung des Militärwesens in den Jahrzehnten vor dem Krieg, auch im Hinblick auf mögliche kriegerische Auseinandersetzungen, hatte man Organisations- und Verwaltungsmaßnahmen, u. a. bei der Versorgung der zurückgebliebenen Familien, vernachlässigt.

Man bezieht sich auf das Kriegsleistungsgesetz von 1873 und das Reichsgesetz von 1888. So erhält die Ehefrau des eingezogenen Ehemannes, meist der einzige Ernährer der Familie, eine Unterstützung von monatlich 9 Mark, für die Monate November bis April 12 Mark, für jedes Kind unter 15 Jahren monatlich 6 Mark. Die Unterstützung kann auch in Form von Lebensmitteln, Brot, Mehl, Kartoffeln oder Brennmaterial erfolgen. So muss mancher Soldat ins Feld im Bewusstsein, dass bei seiner Familie „die graue Sorge vor der Tür und Schmalhans Küchenmeister ist“, wie der Briesetal - Bote am 11. August 1914 schreibt.

Ganz erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit die Bevölkerung die Ver-säumnisse des Staates mit Solidarität und Opferbereitschaft auszugleichen bereit ist. Bei den von Pfarrer Lehmann jeweils in den Abendstunden durchgeführten Kriegs-Bet-Gottesdiensten, die Kirche kann die Besucher kaum fassen, fließt die Kollekte reichlich.

Für die in der Gemeinde anlaufenden Hilfs- und Spendenaktionen entwickelt Amts- und Gemeindevorsteher Kühn erfolgreiche Aktionen. In seinem Aufruf im Briesetal – Boten betont er, dass es „doppelte Pflicht der Wohlhabenden und derer, die nicht unmittelbar von der Mobilmachung betroffen sind, helfend einzugreifen. „Gaben werden im Kriegszimmer des Rathauses entgegen genommen“. Große Verdienste erwirbt sich seine Frau in der Hilfstätigkeit des „Vaterländischen Frauenvereins“ und des „Vaterländischen Frauenvereins vom Roten Kreuz“, in dessen Vorständen sie tätig ist.

Viele Birkenwerderaner melden sich, Räumlichkeiten für Einquartierungen und die Aufnahme von Verwundeten zur Verfügung zu stellen. Die Vereine kümmern sich um die Familien der Mitglieder, die im Felde stehen, halten zu diesen Kontakt mit Briefen und Liebesgaben. Sie lösen ihre Vereinskasse auf und führen das Geld u. a. dem Roten Kreuz zu, der Kegelklub „Feuchte Kugel“ steuert den Betrag von 27,20 Mark bei. Von den Pensionisten des Eisenbahnerinvalidenheims in der Albertallee (heute Sacco – Vanzetti - Str.) geht eine Spende von 50,- Mark ein. Der Briesetal – Bote: „Bravo!“

Eine besonders schwierige Aufgabe hat die Gemeinde mit der Unterbringung, Verpflegung und Ausstattung mit Wäsche, Kleidung und Möbeln einer großen Gruppe von Ostpreußen zu leisten. Diese sind in Folge der ersten Offensive der Russen zu Tausenden geflohen. Großzügig bewirtet Gastwirt Burgermeister im Restaurant „Waldhof“ am 6. September 81, am 10. September lädt der Leiter des Sanatoriums, Dr. Sperling, 50 Flüchtlinge ein.

Am 15. September findet ein großer Ostpreußenabend mit 150 Personen im „Seeschlößchen“ statt, am 20. September bewirtet Gastwirt Hoffmann in Briese 80 Ostpreußen. Bei diesen Veranstaltungen berichtet der geflüchtete Lehrer Ulkan über die Ereignisse in Ostpreußen und die Erlebnisse der Geflüchteten.

Neben den örtlichen Stellen, denen Spenden zufließen, machen auch überregionale Institutionen mit Aufrufen auf sich aufmerksam. „Der Provinzialverein vom Roten Kreuz hat die Versorgung des gesamten 3. Armeekorps mit je einer Leibbinde aus Flanell, ein Paar Pulswärmer und ein Paar wollenen Strümpfen übernommen“. Bei allem Ernst der Lage, gibt der Sachverhalt und die Formulierung doch Anlass zum Schmunzeln.

Ein überwältigendes Ergebnis erbrachte die bis 1924 unkündbare fünfprozentige Reichsanleihe. Für Schatzanleihen und die Reichsanleihe werden insgesamt 4460728000,- Mark bis Ende September gezeichnet.

Die Überzeugung, einen kurzen und siegreichen Feldzug zu führen – die eingezogenen Soldaten hoffen ja, Weihnachten wieder in der Heimat zu sein, beruhte auf einer fatalen Fehleinschätzung der militärischen Lage in Europa und aller außereuropäischen Kriegsgegner und den eigenen wirtschaftlichen Möglichkeiten.

Das zeichnet sich bereits 1914 für die Nahrungsmittelversorgung ab, da keine grundsätzliche Einschränkungen und Maßnahmen zu Anlegung von Reserven zu erkennen sind. Statt konsequenter gesetzlicher Richtlinien erfolgen oft nur unverbindliche Hinweise und Belehrungen. So ist im Briesetal – Boten zu lesen, dass jeder, der über größere(!) Mengen Mehl oder Brotgetreide lagert, auf Verlangen(!) entsprechende Angaben zu machen hat. Einhalt geboten werden soll dem Verkauf von landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu Schleuderpreisen, wozu die in finanzielle Not geratenen bäuerlichen Höfe oft gezwungen sind, wenn der Bauer im Felde ist.

Konkreter ist das Merkblatt des Reichsamtes des Inneren zum Anlegen von Futtervorräten und die optimale Vorbereitung der Herbstbestellung der Äcker.

Aber noch herrscht kein Mangel, sichtbar auch an der guten Betreuung der Ostpreußen. Im Briesetal – Boten offeriert Fleischer Fritz Bade aus der Havelstraße laufend Angebote von frischem Schweinefleisch und ff. Land – und Fleischwurst, bei Arndt in Hohen Neuendorf und Gottlieb in der Brieseallee gibt es frische Blut- und Leberwurst.

Im Ratskeller findet am 3. Oktober ein „Großes Schlachtfest“ und einen Tag später das „Große Wurstessen“ statt. Im „Fichtenhain“ in Hohen Neuendorf findet ein Künstlerkonzert statt, der Wirt empfiehlt „selbst gebackenen Pfannkuchen in bekannter Größe und Güte“, die Konditorei in Frohnau liefert „Torten und Kuchen in bekannter guter Ausführung“.

Abb. 1: Fahr‘ wohl … Feldpost Archiv Herfert

Text Herr Siegfried Herfert für die Gemeinde Birkenwerder